Anknüpfend an den Beitrag zu den Eckpunkten der Mitbestimmung des Betriebsrats bei der betrieblichen Lohngestaltung soll vorliegend eine Besonderheit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dargestellt werden. Das Gericht hat im Jahr 2011 entschieden, dass bei Vorhandensein einer tariflichen Vergütungsordnung und einer Tarifbindung des Arbeitgebers die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG aufgrund des Tarifvorrangs ausgeschlossen sei. Zum Schutz der Arbeitnehmer wäre aber die tarifliche Vergütungsordnung auf den Betrieb insgesamt anzuwenden. Die Grundsätze dieser Rechtsprechung und ihre rechtliche Einordnung in den Gesamtkontext des Verständnisses zum Tarifvorrang sind Gegenstand dieses Beitrages.
Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung mitzubestimmen. Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG ist gegeben, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Die Mitbestimmung des Betriebsrats bei den sozialen Angelegenheiten steht also unter einem Tarifvorbehalt. Ein gültiger Tarifvertrag, der in räumlicher und fachlicher Hinsicht einen Betrieb erfasst, schließt die Mitbestimmung des Betriebsrats aus. Dies gilt allerdings nur, soweit der Tarifvertrag einen mitbestimmungsrelevanten Sachverhalt abschließend regelt und keine Öffnungsklausel enthält. Darüber hinaus setzt der Tarifvorbehalt die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers voraus.
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Mitgliedschaft von Arbeitnehmern in Gewerkschaften dagegen nicht erforderlich, damit der Tarifvorrang greift. Allein die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers führe dazu, dass die in § 87 Abs. 1 BetrVG geregelten Gegenstände der Mitbestimmung entzogen sind. Dies zumindest dann, soweit ein Tarifvertrag sie inhaltlich abschließend regelt. Daraus ergibt sich aber eine rechtliche Problematik: Die tarifgebundenen Arbeitnehmer kommen in den Genuss der tarifvertraglichen Regelungen, während den Betriebspartnern z.B. eine analoge Regelung für nichttarifgebundene Arbeitnehmer aufgrund des Tarifvorbehalts, für den die arbeitgeberseitige Tarifbindung nach der BAG-Rechtsprechung ausreicht, nicht möglich ist.
Im Jahr 2011 musste sich der erste Senat des Bundesarbeitsgerichts im Rahmen einer Rechtsbeschwerde mit dieser Problematik der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG befassen. Die Arbeitgeberin war an den Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen gebunden. Bei der Eingruppierung neuer Arbeitnehmer hat die Arbeitgeberin ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr die Vergütungsordnung dieses Gehaltstarifvertrages zugrunde gelegt. Der Betriebsrat setzte sich dagegen in einem Beschlussverfahren zur Wehr, das darauf gerichtet war, bei Einstellungen die Vergütungsordnung des Gehaltstarifvertrages zur Anwendung zu bringen. In seinem Antrag unterschied der Betriebsrat dabei nicht danach, ob Arbeitnehmer tarifgebunden oder nicht tarifgebunden sind. Das Bundesarbeitsgericht gab dem Betriebsrat im Rechtsbeschwerdeverfahren Recht.
Bei der Auflösung des bereits beschriebenen rechtlichen Problems ließ sich das Bundesarbeitsgericht maßgeblich von der Zweckbestimmung des Tarifvorbehalts und des § 87 BetrVG leiten. Diese Bestimmung soll die Arbeitnehmer vor der einseitigen Gestaltungsmacht des Arbeitgebers schützen. Eines solchen Schutzes bedürfe es aber nicht im Anwendungsbereich eines einschlägigen Tarifvertrages. Die zwingenden und unmittelbar wirkenden Bestimmungen im Bereich der sozialen Angelegenheiten machen die Mitbestimmung des Betriebsrats überflüssig, weil sie den sozialen Schutz der Arbeitnehmer verwirklichen.
Der Schutz der Arbeitnehmer vor einseitiger Gestaltungsmacht wird indes verfehlt, wenn Arbeitnehmer nicht tarifgebunden sind. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses rechtliche Spannungsfeld im vorgelegten Fall aufgelöst, indem es unter Fortschreibung der Rechtsprechung zum Tarifvorbehalt bei einer nur arbeitgeberseitigen Tarifbindung dem Arbeitgeber die Pflicht auferlegt, das tarifliche Vergütungssystem auch auf die nichttariflichen Arbeitnehmer anzuwenden. Dabei hat es aber klargestellt, dass die angebliche mitbestimmungsrechtliche Schutzlücke stets in Abhängigkeit von Sinn und Zweck des jeweiligen Mitbestimmungsrechts zu schließen ist.
Im Fall des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG konnte das nach Ansicht des BAG nur bedeuten, die Vergütungsordnung für den gesamten Betrieb fruchtbar zu machen, um dem Ziel der Verteilungsgerechtigkeit gerecht zu werden.
Daraus wird deutlich, dass das Bundesarbeitsgericht eine schematische Lösung ausschließt. Die Gefahr von Einzelfallentscheidungen, die sich von methodischen Grundsätzen lösen, ist damit aber als gegeben anzusehen. Bereits die im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG angeordnete Rechtsfolge der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Anwendung des tariflichen Vergütungssystems begegnet rechtlichen Bedenken. Wie kommt das Bundesarbeitsgericht von der vermeintlichen Schutzlücke auf diese rechtliche Konsequenz? Es sagt, dass der Arbeitgeber betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet sei, die Vergütungsordnung anzuwenden.
Methodisch nachvollziehbar hat das Bundesarbeitsgericht zunächst einmal den gesetzgeberischen Willen zu ergründen versucht. Hierbei hat es aber seine eigene an die Stelle der gesetzgeberischen Wertung gesetzt, indem es unterstellte:
Zwar mag dem Gesetzgeber bei der Gleichstellung von gesetzlichen und tariflichen Regelungen im Eingangshalbsatz bewusst gewesen sein, dass letztere nur denjenigen umfassend normativ vor der einseitigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen bewahren, der sich mit seinem Gewerkschaftsbeitritt dieses Schutzes bedienen will. […] Der Gesetzgeber konnte jedoch auch davon ausgehen, dass bei den erst aufgrund eines kollektiven Bezugs mitbestimmungspflichtigen Sachverhalten des § 87 Abs. 1 BetrVG eine abschließende tarifvertragliche Regelung faktisch zugleich die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer schützt.
Der Versuch der Ergründung des gesetzgeberischen Willens führt letztlich zu ganz eigenen Annahmen. Die Vorstellung von einem faktischen Schutz in kollektiven mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten wird dem Gesetzgeber eingelegt und nicht näher begründet. Auf dieser Basis erschließt sich nicht, ob tatsächlich eine Schutzlücke besteht und welche Rechtsfolge hieraus abzuleiten ist. Das Vorgehen des Bundesarbeitsgericht hat daher den Anschein einer Rechtsfortbildung und nicht einer methodisch sauberen Auslegung des Gesetzes.
Das Bundesarbeitsgericht bringt sich mit seiner Rechtsprechung zum Tarifvorrang nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG in die Bredouille. Die Annahme des Gerichts, wonach die arbeitgeberseitige Tarifbindung den Tarifvorrang auslöse und das Mitbestimmungsrecht ausschließe, ist in Wahrheit der eigentliche Ursprung der verlautbarten Schutzlücke. In der Literatur wird dieses Verständnis zum Teil mit Verweis auf § 4 Abs. 1 BetrVG befürwortet (vgl. Fitting, Betriebsverfassungsgesetz Handkommentar, 29. Auflage 2018, § 87 Rn. 410).
Diese rechtlicher Standpunkt ist jedoch nicht zwingend und angreifbar. Ausgangspunkt der Überlegungen muss das korrekte Verständnis des § 87 BetrVG im Normengefüge sein. Dabei kommt es wesentlich auf den Willen des Gesetzgebers an, der mit § 87 BetrVG der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers in den dortigen Angelegenheiten durch die Mitbestimmung des Betriebsrats Grenzen setzen wollte. Der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG ist in diesem Lichte zu sehen und zu bewerten. Soweit eine tarifliche Regelung besteht, ist die einseitige Gestaltungsmacht des Arbeitgebers insoweit eingeschränkt; die Mitbestimmung ist zum Schutz der Arbeitnehmer nicht erforderlich.
Dies gilt allerdings nur für die Mitarbeiter, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Für alle anderen besteht die Notwendigkeit einer Beschränkung der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers weiterhin. Es leuchtet vor dem Hintergrund des gesetzgeberischen Willens nicht ein, weshalb die Mitbestimmung in Bezug auf die nichttarifgebundenen Arbeitnehmer ausgeschlossen sein soll. Anstelle der gesetzlich vorgegebenen Mitbestimmung tritt ein rechtlich unkonturierter „Klimmzug“ des Bundesarbeitsgerichts, der die Schutzlücke schließen soll.
Es bestehen keine Gründe, die zu diesem (un)methodischen Vorgehen des Bundesarbeitsgerichts zwingen. Eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck ergibt vielmehr die Erforderlichkeit des Schutzes nichttarifgebundener Arbeitnehmer über die Mitbestimmung des Betriebsrats. Diesen Schutz kann ein Tarifvertrag, der Regelungen zu Inhaltsnormen enthält, nicht bieten, da diese nur bei einer beidseitigen Tarifbindung gelten. Der Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen also jeweils Mitglied der tarifschließenden Vereinigungen sein, damit der Tarifvorrang greift (so auch Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 16. Auflage 2018, § 87 Rn. 155, 162).
Der Ausschluss der Mitbestimmung des Betriebsrats bei einer arbeitgeberseitigen Tarifbindung läuft also auf eine Rechtsanwendung gegen den gesetzgeberischen Willen hinaus. Daran vermag der erwähnte „Klimmzug“ in Form einer pauschalen Anwendung des tariflichen Vergütungssystems auch auf nichttarifliche Arbeitnehmer nichts zu ändern. Hierbei handelt es sich nur um einen Schutzreflex, um die mit dieser Rechtsprechung verbundene Herabsenkung des Schutzniveaus für nichttarifgebundene Arbeitnehmer tatsächlich in den Griff zu bekommen.
Der Bestand der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 BetrVG bei einer arbeitgeberseitigen Tarifbindung wird auch von dem Wortlaut der Bestimmung gestützt, der die Mitbestimmung anordnet, soweit eine tarifliche Regelung nicht besteht. Eine andere Sichtweise ist auch nicht mit Blick darauf geboten, dass der Betriebsrat im Betrieb Konkurrenzregelungen für nichttarifgebundene Arbeitnehmer erlassen könnte. Im Gegensatz zu der Regelung nach § 77 Abs. 3 BetrVG besteht der Sinn und Zweck des Tarifvorrangs aus § 87 Abs. 1 Eingangshalbsatz BetrVG gerade nicht darin, die Gewerkschaften vor einer betrieblichen Konkurrenz zu schützen. Ziel allein ist es, die Arbeitnehmer vor der einseitigen Gestaltungsmacht des Arbeitgebers zu bewahren.
Soweit es hierdurch zu unterschiedlichen Regelungsregimen im Betrieb kommt, ist dies im Hinblick auf das gesetzgeberische Ansinnen eines Schutzes in den aufgeführten sozialen Angelegenheiten hinzunehmen. Im Übrigen wird ein rationaler Arbeitgeber in der Regel darauf hinwirken, im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG die Vergütungsordnungen zu harmonisieren. Wenn er mit dem Betriebsrat kein Einvernehmen erzielt, steht ihm der Weg in die Einigungsstelle offen, die ihren Spruch nach billigem Ermessen fällt. Diese muss auch die Belange des Betriebs angemessen berücksichtigen und sie mit den Interessen der Arbeitnehmer in einen angemessenen Ausgleich bringen.
Auch die Betriebspartner sind in ihren Gestaltungsmöglichkeiten nicht völlig frei. § 75 Abs. 1 BetrVG verpflichten die Betriebspartner auf eine Behandlung von Betriebsangehörigen nach Recht und Billigkeit. Hierbei ist insbesondere der verfassungsrechtlich determinierte Grundsatz der Gleichbehandlung hervorzuheben.
Auf dieser Internetseite kommen Drittanbieter-Tools zur Anwendung, die Cookies auf Ihrem Gerät ablegen (siehe Datenschutzerklärung). Sie haben das Recht zu entscheiden, ob Sie Cookies zulassen. Indem Sie die Cookies zulassen, helfen Sie dabei, die Nutzererfahrung auf dieser Seite zu verbessern.
Über den Autor